Ich möchte das Markusevangelium zur Diskussion stellen, insbesondere unter der Fragestellung der Historizität der geschilderten Ereignisse und Personen sowie der Glaubwürdigkeit der Verhaltensweise einer Person, die historisch gesichert ist (Pilatus). Im Fokus stehen natürlich die Wundererzählungen und die Passionsgeschichte. Mich würde interessieren, zu welchem Ergebnis die einzelnen User in der Frage kommen, welche historische Substanz dem Mk-Narrativ noch zugeschrieben werden kann, nachdem das objektiv Unglaubwürdige aus den ´Berichten´ entfernt ist.
Die Frage ist bekannt als die nach dem ´historischen Jesus´. Manche sagen, ein solcher Jesus kann aus den Evangelien herausdestilliert werden, kommen dabei aber zu unterschiedlichen Resultaten. Mit Bultmann kann man dieses Verfahren ´Demythologisierung´ nennen. Andere sagen, dass die Zwiebel ohne Kern ist: Entfernt man alle ´mythischen´ Schalen, bleibt ein Vakuum.
Natürlich hängt das Resultat solcher Überlegungen von der Definition eines ´historischen Jesus´ ab. Mengentheoretisch gefragt: Welche Elemente sind Teil der Menge J?
Beispiel:
J = {a, b, c, d, e, f}
a = jüdischer Wanderprediger mit Namen Yeshua zu Beginn des 1. Jh. CE, b = Sohn Gottes, c = Anspruch auf Messianität, d = jungfräulich geboren, e = gekreuzigt, f = wiederauferstanden, g = Erlöser der Menschheit
Das ist eine christlich-affirmative Position, die nicht den ´historischen´, sondern den kerygmatischen Jesus definiert.
Eine den historischen Jesus thematisierende Position ist z.B.:
J = {a, c, e}
d.h. Jesus war ein Messianität beanspruchender jüdischer Wanderprediger namens Yeshua zu Beginn der 1. Jh. CE, der wie viele andere Juden seiner Zeit am römischen Kreuz starb.
Eine dritte, sehr skeptische Position lautet:
J = {}
d.h. die Eigenschaftsmenge ist leer, weil J = nicht existent.
Ein Problem bei alldem ist das Element e und die Definition des Elements a. Definiert man a allgemeiner, z.B. a = jüdischer Wanderprediger (ohne Namens- und präzise Zeitspezifikation) und setzt h statt e:
(h = von jüdischer oder römischer Obrigkeit im 1. Jh. CE oder BCE hingerichtet)
dann erhält man:
J = {a, c, h}
woraus folgt , dass die Gestalt, die in den Evangelien nachträglich als ´Yeshua´ erscheint, ein Messianität beanspruchender jüdischer Wanderprediger war und im oder vor dem 1. Jh. CE hingerichtet wurde. Jener Proto-´Jesus´ könnte auch anders als durch Kreuzigung gestorben sein, z.B. durch Steinigung, was in den Evangelien auf Kreuzigung umgeschrieben wurde, weil das Kreuz eine symbolische Kraft (analog zum Schlangenstab in Numeri 21) hat, der dem Steinigen fehlt.
Auf dieser Grundlage hat sich eine Jesustheorie gebildet, der zufolge die Ursprungsgestalt des Christentums zwar historisch ist, mit dem Jesus der Evangelien aber kaum mehr gemein hat als die Eigenschaften ´jüdischer Wanderprediger´, ´Anspruch auf Messianität´ und ´von Obrigkeit hingerichtet´, also ohne die christlichen Kern-Elemente ´Sohn Gottes´, ´jungfräulich geboren´, ´wiederauferstanden´, ´gekreuzigt´ und ´Erlöser der Menschheit´. Dieser Theorie zufolge hätten seine Anhänger, frustriert vom Scheitern ihres vermeintlichen Messias, nachträglich eine Mythologie konstruiert, die über den Verlust hinwegtrösten sollte, indem sie das Scheitern rationalisiert: Der schmähliche Tod des Meisters sei Teil von ´Gottes´ Plan zum Wohl aller Menschen gewesen und der Meister sei wiederauferstanden und zu seinem ´Vater´ zurückgekehrt. Dementsprechend hat sich, so die Theorie, eine christliche Mythologie gebildet, wie sie sich in den vier kanonischen Evangelien niederschlug (sowie in den davon mehr oder weniger stark abweichenden anderen 76 Evangelien, die nicht ins NT aufgenommen wurden).
Im Licht dieser Theorie ist ´Jesus´ vergleichbar mit Schrödingers Katze: Er ist historisch und unhistorisch zugleich. Mit dem Jesus des NT hat er zu wenig zu tun, um mit ihm gleichgesetzt zu werden, ist aber dennoch sein historischer Ausgangspunkt.
Genug der Vorrede, jetzt zum Mk.
(in Mk fehlt dem Jesus das Attribut ´jungfräulich geboren´, da ein entsprechender Geburtsbericht nur bei Lk und Mt zu lesen ist)
Markus war ein Geschichtenerzähler, dem das Erfinden szenischer Details kein Problem bereitete, wie viele offensichtlich ausgeschmückte Stellen im Mk zeigen. Er stand damit in der Tradition sowohl der hellenistisch-romanischen Romanliteratur als auch der jüdischen Glaubensliteratur, die mit Büchern wie z.B. Moses 1-5, Ester und Judith Erzeugnisse einer eindrucksvollen literarischen Phantasie aufweist. In der Literaturwissenschaft werden die Evangelien unter ´Kleinliteratur´ eingeordnet, um sie von den Werken antiker ´Hochliteratur´ zu unterscheiden (seit K.L. Schmid, ´Die Stellung der Evangelien in der allgemeinen Literaturgeschichte´, 1923). Begründet wird das mit der relativ einfachen Sprache, wie sie besonders bei Markus erkennbar ist, der schlichte Sätze meist mit ´und´ verbindet, wie dies auch heute im Alltag oft zu hören ist.
Ob Markus´ literarische Fähigkeiten so limitiert waren, dass er anders nicht schreiben konnte, oder ob er bewusst einen einfachen Stil wählte, um ein breites Publikum zu erreichen, ist in der Fachwelt umstritten. Ich neige zu letzterer Auffassung, da ich Markus im Ganzen für einen begabten Schriftsteller halte, der über ein beträchtliches formales Talent verfügte. Der Beginn des Lukas-Evangeliums veranschaulicht den Unterschied zwischen ´hohem´ und ´kleinem´ Stil: Der Anfang (Lk 1,1-4) ist hochliterarisch bzw. im gehobenen Korrespondenzstil formuliert, ab Lk 1,5, wenn die Erzählung einsetzt, wird´s kleinliterarisch volksnah.
Für eine Eröffnung des Threads soll das reichen.
Die Frage ist bekannt als die nach dem ´historischen Jesus´. Manche sagen, ein solcher Jesus kann aus den Evangelien herausdestilliert werden, kommen dabei aber zu unterschiedlichen Resultaten. Mit Bultmann kann man dieses Verfahren ´Demythologisierung´ nennen. Andere sagen, dass die Zwiebel ohne Kern ist: Entfernt man alle ´mythischen´ Schalen, bleibt ein Vakuum.
Natürlich hängt das Resultat solcher Überlegungen von der Definition eines ´historischen Jesus´ ab. Mengentheoretisch gefragt: Welche Elemente sind Teil der Menge J?
Beispiel:
J = {a, b, c, d, e, f}
a = jüdischer Wanderprediger mit Namen Yeshua zu Beginn des 1. Jh. CE, b = Sohn Gottes, c = Anspruch auf Messianität, d = jungfräulich geboren, e = gekreuzigt, f = wiederauferstanden, g = Erlöser der Menschheit
Das ist eine christlich-affirmative Position, die nicht den ´historischen´, sondern den kerygmatischen Jesus definiert.
Eine den historischen Jesus thematisierende Position ist z.B.:
J = {a, c, e}
d.h. Jesus war ein Messianität beanspruchender jüdischer Wanderprediger namens Yeshua zu Beginn der 1. Jh. CE, der wie viele andere Juden seiner Zeit am römischen Kreuz starb.
Eine dritte, sehr skeptische Position lautet:
J = {}
d.h. die Eigenschaftsmenge ist leer, weil J = nicht existent.
Ein Problem bei alldem ist das Element e und die Definition des Elements a. Definiert man a allgemeiner, z.B. a = jüdischer Wanderprediger (ohne Namens- und präzise Zeitspezifikation) und setzt h statt e:
(h = von jüdischer oder römischer Obrigkeit im 1. Jh. CE oder BCE hingerichtet)
dann erhält man:
J = {a, c, h}
woraus folgt , dass die Gestalt, die in den Evangelien nachträglich als ´Yeshua´ erscheint, ein Messianität beanspruchender jüdischer Wanderprediger war und im oder vor dem 1. Jh. CE hingerichtet wurde. Jener Proto-´Jesus´ könnte auch anders als durch Kreuzigung gestorben sein, z.B. durch Steinigung, was in den Evangelien auf Kreuzigung umgeschrieben wurde, weil das Kreuz eine symbolische Kraft (analog zum Schlangenstab in Numeri 21) hat, der dem Steinigen fehlt.
Auf dieser Grundlage hat sich eine Jesustheorie gebildet, der zufolge die Ursprungsgestalt des Christentums zwar historisch ist, mit dem Jesus der Evangelien aber kaum mehr gemein hat als die Eigenschaften ´jüdischer Wanderprediger´, ´Anspruch auf Messianität´ und ´von Obrigkeit hingerichtet´, also ohne die christlichen Kern-Elemente ´Sohn Gottes´, ´jungfräulich geboren´, ´wiederauferstanden´, ´gekreuzigt´ und ´Erlöser der Menschheit´. Dieser Theorie zufolge hätten seine Anhänger, frustriert vom Scheitern ihres vermeintlichen Messias, nachträglich eine Mythologie konstruiert, die über den Verlust hinwegtrösten sollte, indem sie das Scheitern rationalisiert: Der schmähliche Tod des Meisters sei Teil von ´Gottes´ Plan zum Wohl aller Menschen gewesen und der Meister sei wiederauferstanden und zu seinem ´Vater´ zurückgekehrt. Dementsprechend hat sich, so die Theorie, eine christliche Mythologie gebildet, wie sie sich in den vier kanonischen Evangelien niederschlug (sowie in den davon mehr oder weniger stark abweichenden anderen 76 Evangelien, die nicht ins NT aufgenommen wurden).
Im Licht dieser Theorie ist ´Jesus´ vergleichbar mit Schrödingers Katze: Er ist historisch und unhistorisch zugleich. Mit dem Jesus des NT hat er zu wenig zu tun, um mit ihm gleichgesetzt zu werden, ist aber dennoch sein historischer Ausgangspunkt.
Genug der Vorrede, jetzt zum Mk.
(in Mk fehlt dem Jesus das Attribut ´jungfräulich geboren´, da ein entsprechender Geburtsbericht nur bei Lk und Mt zu lesen ist)
Markus war ein Geschichtenerzähler, dem das Erfinden szenischer Details kein Problem bereitete, wie viele offensichtlich ausgeschmückte Stellen im Mk zeigen. Er stand damit in der Tradition sowohl der hellenistisch-romanischen Romanliteratur als auch der jüdischen Glaubensliteratur, die mit Büchern wie z.B. Moses 1-5, Ester und Judith Erzeugnisse einer eindrucksvollen literarischen Phantasie aufweist. In der Literaturwissenschaft werden die Evangelien unter ´Kleinliteratur´ eingeordnet, um sie von den Werken antiker ´Hochliteratur´ zu unterscheiden (seit K.L. Schmid, ´Die Stellung der Evangelien in der allgemeinen Literaturgeschichte´, 1923). Begründet wird das mit der relativ einfachen Sprache, wie sie besonders bei Markus erkennbar ist, der schlichte Sätze meist mit ´und´ verbindet, wie dies auch heute im Alltag oft zu hören ist.
Ob Markus´ literarische Fähigkeiten so limitiert waren, dass er anders nicht schreiben konnte, oder ob er bewusst einen einfachen Stil wählte, um ein breites Publikum zu erreichen, ist in der Fachwelt umstritten. Ich neige zu letzterer Auffassung, da ich Markus im Ganzen für einen begabten Schriftsteller halte, der über ein beträchtliches formales Talent verfügte. Der Beginn des Lukas-Evangeliums veranschaulicht den Unterschied zwischen ´hohem´ und ´kleinem´ Stil: Der Anfang (Lk 1,1-4) ist hochliterarisch bzw. im gehobenen Korrespondenzstil formuliert, ab Lk 1,5, wenn die Erzählung einsetzt, wird´s kleinliterarisch volksnah.
Für eine Eröffnung des Threads soll das reichen.
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