Eben, die Grimms haben den Untergang des Alten Reichs, Napoleon und seinen Bruder Jerome und schließlich die Rückkehr des neuen alten Herrn Wilhelm IX., seit 1803 Kurfürst von Hessen-Kassel und der Welfen erlebt. Ihre Schaffensperiode reichte von der Frühromantik bis in die drückendste Zeit des Biedermeier. Die sind auch nicht über Land gezogen und haben Feldforschung und moderne Erzählforschung betrieben wie ein heutiger Ethnologe oder Volkskundler das tun würde. Die Grimms waren als junge Männer recht schüchtern, und im Umgang mit Leuten aus dem Volk unbeholfen, um nicht zu sagen linkisch. Ihre Gewährsleute waren Damen der Kasseler Gesellschaft, von denen viele Nachkommen von Hugenotten waren. Man mag ja von ihnen halten, was man mag, in meinen Kinderzeiten gerieten Märchen in die Kritik, viele kritisierten, dass sie zu brutal seien und ein autoritär, patriarchialisches Weltbild förderten. Trotzdem bin ich der Meinung, dass allein die Fleißaufgabe, diesen ganzen Kram, die Märchen, die deutschen Wörterbücher die Rechtsaltertümer zu sammeln und zu katalogisieren und zu editieren Respekt abfordert.
Die Grimms waren ja auch nur ein Beispiel für die Antriebskräfte die Napoleons Herrschaft freisetzte. Sie ließ sich ergänzen um Reformer, Politiker und Militärstrategen wie den Freiherrn von Stein, Hardenberg, Clausewitz, Scharnhorst und Gneisenau die miterlebt hatten, wie Napoleon das verkrustete Preußen aufgemischt hatte. Nach dem Debakel von Jena und Auerstedt forderte der Stadtkommandant von Berlin auf zur Ruhe, die jetzt erste Bürgerpflicht sei. Clausewitz und Scharnhorst modernisierten die armee, Stein und Hardenberg die Verwaltung, und sie alle lernten von Napoleon. Es wurde nach dem Vorbild der Levee en Masse die allgemeine Wehrpflicht eingeführt, ein Architekt, Schinkel, entwarf einen Orden, das Eiserne Kreuz, das die erste Auszeichnung war, die auch einfache Soldaten bekommen konnten. Aus den Farben eines recht unbedeutenden Freikorps, den Lützower Jägern entstand Schwarz-Rot-Gold, noch heute unsere Nationalfahne. während der Befreiungskriege gab Friedrich-Wilhelm III. den Aufruf "An mein Volk" heraus, in dem er die ganze Nation zum Kampf gegen Napoleon aufforderte. Das alles wäre 1806 noch undenkbar gewesen. All die Reformen und Freiheiten hatten den Schönheitsfehler, dass sie während der Restauration wieder kassiert und eingestampft wurden, aber ganz rückgängig machen und austreten ließ sich das nicht alles. Das ist es, was Nipperdey damit meinte: "Am Anfang war Napoleon". Dessen Tragik war, dass seine eigene Dynamik gewaltige Antriebskräfte mobilisierte, die sich am Ende gegen ihn wendeten, gegen ihn wenden mussten, denn seine Herrschaft erschien am Ende den Spaniern, Russen und Deutschen unerträglich. Ohne Napoleon hätte es keinen deutschen Nationalismus gegeben. Es gab einen alten Reichspatriotismus, aber ansonsten fühlten sich die Deutschen eher als Preußen, Sachsen, Bayern, Hessen oder Schwaben.
Der deutsche Nationalismus entwickelte im Laufe der Zeit viele unschöne Züge. Vieles, was Theodor Körner, der "Turnvater" Jahn, Fichte oder Ernst Moritz Arndt schrieben klingt mit all den antifranzösischen, antisemitischen und deutschnationalen Phrasen heute fast grotesk, und manches ist nicht mal mehr zitierfähig. Während des NSU-Prozesses in München fragte der Vorsitzende einen der Unterstützer der Terrororganisation was er damit gemeint habe, als er sich einen Spruch von Ernst-Moritz Arndt aufgeschrieben hatte: "Der Gott der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte."
Der Mann kannte wohl nicht die Quelle, nannte sich aber einen "germanischen Freiheitskämpfer", der gegen "Meinungsparagraphen" angetreten sei. Suspekt war das aber schon den Obrigkeiten vor fast 200 Jahren, und 1813 war der deutsche Nationalismus eher links, als rechts, wo er sich 100 Jahre später verortete.