In der Antike gab es kein Zölibat
Das ist so nicht ganz richtig. Die Vestalinnen in Rom waren zu strengster Enthaltsamkeit verpflichtet; wer dagegen verstieß, konnte lebendig begraben werden.
Von Epiktet ("Über den Kynismus") ist eine Begründung der Ehelosigkeit überliefert, wie wir sie ganz ähnlich auch von christlichen Verfechtern des Zölibats kennen: Ehe und Familie lenken nur davon ab, sich ganz in den "Dienst der Gottheit" zu stellen:
"... muss da der Kyniker nicht ungehindert sein, ganz im Dienst der Gottheit stehen, imstande sein unter den Menschen herumzugehen, nicht gefesselt durch bürgerliche Pflichten, nicht gebunden durch persönliche Beziehungen, durch deren Verletzung er nicht mehr den Charakter des Ehrenmannes bewahren, durch deren Wahrnehmung er aber den Boten, den Kundschafter und Herold der Götter zerstören würde? Denn siehe, er müsste zeigen, was einer seinem Schwiegervater schuldig ist, was den übrigen Verwandten seiner Frau und seiner Frau selbst."
Epict. Diss. III 22 (zit. nach Neuer Wettstein II/1, S. 291)
Und ein Rabbi musste damals – wie heute noch in im orthodoxen Judentum – verheiratet sein.
Vom heutigen rabbinischen Judentum darfst du aber nicht ausgehen, denn das rabbinische Judentum ist ein Resultat aus Entwicklungen die mit der Zerstörung des Tempels 70 (Vespasian, Titus) und der Vertreibung der Juden aus Iudaea und der Umbennenung Iudaeas in Palaestina (Hadrian) - also gewissermaßen einer das Judentum betreffenden damnatio memoriae - zusammenhängen.
Das Judentum zu Beginn unserer Zeitrechnung war ziemlich vielgestaltig und übrigens auch weit weniger übersichtlich, als Flavius Josephus das mit seiner Einteilung in drei "philosophische Schulen" (Pharisäer, Sadduzäer, Essener) suggeriert.
2. Es giebt nämlich bei den Juden drei Arten von philosophischen Schulen; die eine bilden die Pharisäer, die andere die Sadducäer, die dritte, welche nach besonders strengen Regeln lebt, die sogenannten Essener. Die letzteren sind ebenfalls geborene Juden, aber untereinander noch mehr als die anderen durch Liebe verbunden. Die sinnlichen Freuden meiden sie wie die Sünde, und die Tugend erblicken sie in Enthaltsamkeit und Beherrschung der Leidenschaften. Über die Ehe denken sie gering, dagegen nehmen sie fremde Kinder auf, so lange dieselben noch in zartem Alter stehen und bildungsfähig sind, halten sie wie ihre Angehörigen und prägen ihnen ihre Sitten ein. Doch wollen sie damit die Ehe und die Erzielung von Nachkommenschaft durch dieselbe nicht gänzlich aufheben, sondern sich nur vor den Ausschweifungen der Weiber sichern, da sie glauben, dass keines derselben dem einen Gatten die Treue bewahre.
[...]
13. Ausserdem giebt es nun noch einen zweiten Zweig der Essener, der in Lebensart, Sitten und Gebräuchen mit dem anderen ganz überein stimmt, in der Ansicht über die Ehe dagegen von ihm abweicht. Sie glauben nämlich, dass die, welche nicht in die Ehe träten, den wichtigsten Lebenszweck, die Erzielung von Nachkommenschaft, ausser acht liessen, oder vielmehr, dass, wenn alle so dächten, das ganze Menschengeschlecht in kürzester Zeit aussterben müsse. Doch erproben sie die Bräute drei Jahre lang, und wenn sie nach dreimaliger Reinigung deren Fähigkeit, Kinder zu gebären, erkannt haben, nehmen sie dieselben zur Ehe. Während der Schwangerschaft enthalten sie sich des Beischlafes zum Beweise, dass sie nicht aus Wollust, sondern um Kinder zu erzielen geheiratet haben.
Flavius Josephus Werke: Altertümer, Krieg, Apion, Leben. Übersetzt von Heinrich Clementz : Heinrich Clementz : Free Download, Borrow, and Streaming : Internet Archive
Man kann sich natürlich streiten, ab wann sich hellenistisch-römische Vorstgellungen in Luft aufgelöst hatten. Ich meine, dass dies spätestens 529 nach der Schliessung der letzten Philosophenschule in Athen als "Stätte heidnischer und verderbter Lehren" geschehen ist. Natürlich hat sich das Christentum in der römisch-hellenistischen Welt entwickelt und ist auch ensprechend beeinflusst worden, dass heisst aber ja wohl nicht, dass das mittelalterliche Christentum eine Fortsetzung oder "Weiterentwicklung" dieser Welt und deren Vorstellung gewesen ist.
Die (neuplatonische) Philosophenschule, die 529 geschlossen wurde, war m. W. erst im frühen 5. Jahrhundert gegründet worden. Neuplatonische Denkweisen waren damals aber auch im Christentum präsent und wurden ins Mittelalter weitertradiert, siehe Boethius:
Der Trost der Philosophie – Wikipedia
Was würdest Du denn zum Judentum sagen? Von den vielfältigen Spielarten, die sich zu Beginn unserer Zeitrechnung belegen lassen, sind alle untergegangen; nur das rabbinische Judentum (das sich erst im 1. Jahrhundert bildete) hat die Antike überlebt. Trotzdem würde niemand behaupten, das Judentum habe sich "in Luft aufgelöst."