Heß hat schon zu Recht lebenslang in Knast gesessen.
Na, ich weiß nicht. Im Verhältnis zu dem, was er tatsächlich zu verantworten hatte, gab es sicher Angeklagte, die bedeutend mehr auf dem Kerbholz hatten, als Heß. Dönitz, von Schirach und Spee haben 20 Jahre gefasst, und das ist auch schon ein Brett.
In der Bundesrepublik Deutschland können wegen Totschlag verurteilte nach 15 Jahren ein Gnadengesuch stellen. Als Unternehmen Barbarossa startete, saß Heß schon in England, und auch am Holocaust war Heß nicht beteiligt. Er hatte nie Kommandogewalt über Einsatzgruppen, er hat keinen Massenmord verübt, keinen befohlen.
Im Verhältnis was er tatsächlich zu verantworten hatte, hatte etwa Albert Speer wohl mehr Schuld auf sich geladen. Hätte man 1945 gewusst, was heute bekannt ist, wäre Speer exekutiert worden. Speer war ein eloquenter Technokrat, er hätte auch in einem ganz anderen System Karriere machen- und er war einer der wenigen Angeklagten, die so etwas wie Reue zeigten. Manche sagen, er war ein eiskalter Schwindler- es ist aber nun einmal eine Spielregel vor Gericht, dass ein Geständnis, dass Reue sich strafmildernd auswirken.
Heß blieb dagegen bis zum Ende seines Lebens ein Fanatiker, ein Überzeugungstäter. Er hielt Hitler für einen der größten "Söhne, die Deutschland hervorgebracht hat". In all den Jahren kam nie auch nur ein einziges Wort des Bedauerns, der Reue des Mitgefühls über seine Lippen- und das ist doch ziemlich erbärmlich!
Er war Antisemit, und er hat die Entrechtung, Ausplünderung und Vertreibung der Juden mitgemacht. Er hat Berufsverbote für Juden und Einführung der Prügelstrafe in den Ghettos nicht nur mitgetragen, sondern ist mit eigenen Vorschlägen vorgeprescht. Er war ein Querulant, ein Überzeugungstäter ein Fanatiker, der auch in der Partei belächelt wurde. Verglichen mit vielen seiner Parteikollegen verglichen mit den fast surrealistischen Grausamkeiten die kleine und große Nazis in Deutschland und den besetzten Gebieten begingen, verglichen auch mit dem Ausmaß an Korruption und Selbstbedienungsmentalität erscheint er fast zahm. Heß war unbestechlich, er hat nicht wie Göring Europas Museen geplündert, sich nicht an Arisierungen gemästet wie Streicher es tat.
In der "Nacht der langen Messer" drängelte er sich-als echter Fanatiker-vor und hätte sich wohl gefreut, wenn er Ernst Röhm hätte liquidieren dürfen. Er hat aber niemanden umgebracht, nicht wie Göring, Himmler und Heydrich schwarze Listen geführt und alte Rechnungen beglichen. Weder an Unternehmen Barbarossa, noch am Holocaust war er an Planung und Durchführung beteiligt.
Im Gegensatz zu Streicher, dem selbst das noch als viel zu lasch erschien, hätte er daran wohl keinen Gefallen gefunden. Es spricht durchaus einiges dafür, dass er in die Brandstiftung der Synagogen nicht eingeweiht war. Sicher waren seine Sekretärinnen nicht unbedingt objektive Zeitzeugen, es gibt aber mehrere Aussagen, dass er von den Novemberpogromen verstört war. Das änderte freilich nichts an seinem Treueeid zu Hitler. Nie war auch nur ein Wort der Kritik von ihm zu hören. Für ihn spricht, dass er mehrfach appellierte, man sollte seine Sekretärinnen und Mitarbeiter nicht für seinen Englandflug zur Verantwortung ziehen.
In Haft blieb er, was er war-ein Querulant, Hypochonder, Verschwörungstheoretiker und Esoteriker. Im neuen, demokratischen Deutschland, in der Bundesrepublik ist er niemals angekommen, obwohl er immerhin mehr als 40 Jahre in der BRD lebte.
In den Nürnberger Prozessen erschien er oft verwirrt-ob er das spielte, sei dahingestellt. Dass er wirklich schwer schwer einen an der Klatsche hatte, war schon vor 1945 den meisten klar, die ihn kennenlernten.
Richard von Weizäcker hatte ursprünglich vor, sich in seiner Rede vom 8. Mai 1985 für eine Begnadigung Heß einzusetzen. Was er später auch tat. Heß blieb was er war, ein ziemlich unsympathischer Zeitgenosse, unbeirrbarer Fanatiker. Seine eigene Familie-ebenfalls unbeirrbare Fanatiker und überzeugte Nazis-ließ er erst 1969 zum Besuch zu. Im Laufe der Zeit wurde er zu einer Ikone der Neonazis.
Dönitz, Raeder, von Schirach und Speer kamen schließlich frei. Von Dönitz war nicht mehr viel von den alten Zeiten zu hören, Baldur von Schirach und Speer zeigten so etwas wie Reue, und Speer wurde ein gern gesehener Talkshow-Gast. Von Heß kam nicht ein Wort des Bedauerns-das machte ihn-Spinner hin oder her-zur Ikone der Neonazis.
Eigentlich ziemlich erbärmlich, wenn man bedenkt, wie lange er gesessen hat-Da war Heß aber nicht allein-Rudel, Winifred Wagner, Gudrun Bunzelwitz geb. Himmler, Leni Riefenstahl sie alle hatten sich nichts, aber auch gar nichts vorzuwerfen-Sie alle hatten ein pathologisch gutes Gewissen und fast alle hatten sie Hitler einen Treueeid geleistet und blieben USA (unserem seligen Adolf O-Ton W. Wagner) verbunden. Gordon Jackson, der Chefankläger in Nürnberg sagte in der Distanz von Jahrzehnten zum Fall Heß, dass "lebenslänglich vielleicht etwas zu hart war.
20 Jahre hätten es vielleicht auch getan. Die Frage ist, ob man damit Heß wirklich einen Gefallen getan hätte. Manche Gefangene kommen nach langer Haft in freier Wildbahn nicht klar, sind mit den Anforderungen eines eigenverantwortlichen Lebens überfordert, nicht in der Lage ein Handy oder einen PC zu bedienen. Andere wiederum sind so von Subkulturen oder "Hackordnungen" geprägt, dass sie große Schwierigkeiten haben, emotionale Bindungen eingehen zu können. Solides Mauerwerk, Stahl, Beton und Zeit schlagen auf Dauer auf die Psyche-auch viele Justizbeamte können ein Lied davon singen. Ein alter Kalauer sagt, "wirklich schlimm sind nur die ersten 15-20 Jahre-etliche Gefangene bekommen bei langen Haftaufenthalten einen Knacks weg.