Als um 1800 die "soziale Frage" häufiger gestellt wurde, wunderten sich manche Zeitgenossen darüber, dass die ärmsten Fabrikarbeiter, die elendesten Landarbeiter Geld übrig zu haben schienen, um echten Kaffee zu trinken. Den verlängerten sie mit Zichorie und tranken ihn morgens, mittags und abends, worüber sich bereits 1788 ein Zeitgenosse aus der Schweiz aufregte.
Dass zur selben Zeit in Lyon und Paris Hungerrevolten ausbrachen, war die Kehrseite der medaille. Nach 1800, vor allem während des Pauperismus hatten immer größere Teile des Proletariats immer weniger zu essen.
Die Trilogie der Arbeiternahrung war Schnaps, Kaffee und Kartoffeln.
Dass der Kaffee auf dem Speisezettel der Arbeiter stand, lag aber weniger an der Genusssucht des darbenden Proletariats- Im Gegenteil: Zeitdruck und mangelnde hauswirtschaftliche Kenntnisse der Arbeiterinnen, die von Kindesbeinen in den Fabriken oder in Heimarbeit beschäftigt waren und gar nicht die Gelegenheit hatten, einen Haushalt "ordnungsgemäß" zu führen, war der Grund.
Kaffee war Droge und Lebensmittel zugleich, er stimulierte, gab ein warmes Gefühl im Bauch, und wenn man Brot hineinbrockte, sugegerierte er sogar ein gewisses Sättingungsgefühl. In Nordfriesland ernährten sich die Klöplerinnen fast nur von Kaffee und Brot. Im Heimgewerbe wurde im Erzgebirge 12- 16 Stunden gearbeitet. Ähnlich ging es bei den schlesischen Webern zu. Auf dem Speisezettel standen um 1860 Kartoffeln, wenig Brot, 50 g Butter in der Woche, Heringe, Salz, Roggen (zum rösten), Zichorie und Bohnenkaffee. Warum tranken Weber, die 20 Jahre brauchten, bis sie am Hunger krepierten, echten Bohnenkaffee? Um die allernötigsten Groschen zu verdienen, war für die Zubereitung einer warmen Mittagsmahlzeit keine Zeit. Als letztes Reizmittel für die geschwächten Mägen wurde Kaffee getrunken, der wenigstens das Hungergefühl dämpfte.
Diese Leiden linderte noch stärker ein anderes Präparat, das sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei britischen Arbeitern verbreitete- das Opium. Während 1 Pfund bengalisches Opium um 1800 noch eine Guinea kostete und türkisches noch teurer war, so bürgerte sich dank den Aktivitäten der East India Company der Opiumgebrauch in Europa ein, nachdem der chinesische Markt übersättigt war, und immer mehr Opiumpräparate nach Europa importiert wurden. Thomas de Quincey berichtete, dass um 1830 Opium bereits billiger, als Schnaps war und granweise von Manchester Apothekern verkauft wurde. Der Gebrauch von Opiaten war weder rezeptpflichtig, wurde sogar mit mehr Toleranz betrachtet, als der Alkoholismus. Karl Marx wusste recht gut, wovon er sprach, wenn er sagte: "Die religion sei Opium für das Volk.
Doch noch mal zurück zum Kaffee, den schlesischen Webern und dem Hochkapitalismus: Der Hintergrund des Kaffeekonsums war noch ein anderer: Die in Schlesien hergestellten Leinwandballen wurden via Hamburg nach Lateinamerika exportiert. Die Waren wurden mit Zucker und Kaffee bezahlt, und die Leinwandhändler erhielten kein Geld, sondern wurden in diesen Waren bezahlt. Die Kolonialware Kaffee wurde im bargeldlosen warenaustaiusch an die Weberfamilien abgegeben. Aus der Leinwand wurde Arbeitskleidung für Sklaven hergestellt.
Das kulturgeschichtliche Fazit aus dieser frühen Form der Globalisierung lautete:
Die Sklaven auf den Kaffeeplantagen Brasiliens und Santo Domingo trugen Leinen, das in der Oberlausitz und in Schlesien hergestellt wurde von Proletariern, die de facto ebenfalls "Kaffeesklaven" waren, nur raffinierter ausgebeutet werden konnten, denn einen Sklaven durfte man zwar ungestraft auspeitschen oder töten, musste ihn aber immerhin ernähren.