zu 1. Diese Position vertritt, in expliziter Anlehnung an obige Autoren, auch Leonard (vgl. S. 66/67) und mit dieser Erkenntnis ist im wesentlichen auch eine gewisse "Anerkennung" der wirtschaftlichen Erholung durch NEP verbunden.
Leonard habe ich ja oben zitiert, #18.
Er bietet hier keine überzeugende Darstellung auf S. 66-67, auf einem halben Dutzend Absätzen zu NEP bis 1928. Überdies ist aus der kurzen Darstellung zum Agrarsektor die ökonomisch völlig deplatzierte Ausführung zum Staatsbudget vor 1928 zu streichen. Schließlich ist die Darstellung rein deskriptiv, er wählt lediglich einige Aussagen von Wheatcroft, Harrison und Davies aus und stellt diese aneinander gereiht dar.
Damit übernimmt er implizit die älteren "Kalibrierungsversuche" zu den sowjetischen Statistiken, die es auf Plausibilität zu überprüfen gilt. Um es einmal polemisch darzustellen: wenn jemand Tuberkolose-Statistiken, Wetterstatistiken und Mortalitätsraten zum Adjustment von sowjetischen Produktionsmeldungen verwendet, ist er in der Beweispflicht, das "fraud and error" statistisch übertragbar bzw. die Datenreihen insoweit kohärent sind. Den Nachweis sehe ich nicht. Wenn der Nachweis nicht geführt wird, können wir auch Geburtenstatistiken mit Storchenpopulation zusammenführen.
Aber wieder ernsthaft: welche ökonomischen Erwartungen kann man (mit welchen Fehlerrisken bzw. inhärenten Risiken) an die "recovery" des russischen Agrarsektors stellen? Nehmen wir auch dazu ein paar in der Literatur weitgehend unumstrittene Aussagen:
- der Sektor umfasste vor dem Krieg mindestens 80% der Wirtschaftskraft, seine Entwicklung wird demnach (logischerweise) prägend für die unmittelbare Nachkriegsentwicklung sein
- die Ernten 1920 und 1921 lagen etwa beim hältigen Vorkriegsniveau: das ist der Startpunkt!
- 1922 soll eine gute Ernte dazu geführt haben, dass (1923) 90% der Vorkriegsflächen wieder bewirtschaftet wurden. Mit welchen Hektarerträgen?
- der landwirtschaftliche Tierbestand soll 1925 das Vorkriegsniveau erreicht haben (Vorsicht: Kalibrierung!), was in den Vorjahren erhebliche Abzweigungen zum Aufbau der Population erfordert hätte, bei halbierter (!) Ernte für die Bevölkerung.
- bei sehr guten Wetterbedingungen 1925/26 (nach den vorherigen Prämissen müssten die Vorkriegsflächen mindestens erreicht worden sein) sollen ca. 6 - 12 % Unterschreitung der Vorkriegsernten gegeben sein (Harrison). Das wären - um die Toleranzen zu zeigen - zwischen 5 und 10 Millionen Tonnen. Daraus eribt sich zwingend, dass die Hektarerträge gesunken sein müssen.
Das Datenmaterial ist nun bekanntlich "adjustiert", die Belastbarkeit ist unbekannt.
Was hier aber im Kern beschrieben wird, ist die Erneuerung des Agrarsektors, wie sie in der Tendenz nach dem Krieg
erwartbar ist. Die ländliche Bevölkerung bestellt wieder die Felder, weitet die bewirtschafteten Flächen aus, und päppelt den Viehbestand wieder hoch. Der "systemische Faktor" ist dabei vernachlässigbar: Mit NEP hat das nur soweit zu tun, als die Menschen (vom Plan oder Markt) in Ruhe gelassen werden, was zB in der frühen Experimentalphase (Geld abschaffen etc.) nicht der Fall war.
"Ohne Kalibrierung" ergibt das folgende Schlüsse:
- die Erholung hat stattgefunden, mit hohen Zuwachsraten aufgrund des abgesunkenen Niveaus
- das Vorkriegsniveau muss annähernd erreicht worden sein (der Grad der Annäherung , ob nun 80 oder 95%, oder 105% ist unbekannt)
- die ländliche Versorgung war 1923/28 kein Problem
Eine völlig andere Diskussionsebene ist die der Versorgung der städtischen Bevölkerung und der Abgaben an den Staat zwecks Export. Hier steht die (zutreffende?) Aussage Stalins im Raum, dass man 1928 das Vorkriegsniveau in der agraischen Produktion erreicht habe, die "Abgaben" für die städtische Versorgung und die Exporte aber 10 bis 15% unter Vorkriegsniveau lagen, was der NEP in die Schuhe geschoben worden ist. Um dieses politische Schlachtfeld (richtig oder falsch) über angebliche ökonomische Fehler, Ineffizienzen oder Distributionsprobleme geht es mir aber nicht bei der Betrachtung der ökonomischen Fakten.
Mit geht es um die Datenbasis und den daraus abgeleitenten Vorkriegsvergleich. Weitere ökonomische These: Kapitalfragen waren für diese binnenwirtschaftliche Entwicklung irrelevant (1920/28).