Eine Verständnisfrage: Es geht explizit um die kulturelle Entwicklung in Europa? Aus der Threadüberschrift ergibt es sich natürlich so, aus der Ausgangsthese "Durch die Expansion des Islam im Mittelalter wurde die kulturelle Entwicklung um Jahrzehnte zurückgeworfen" jedoch nicht unbedingt: sie könnte sich ja auch auf die Kultur in denjenigen Gebieten beziehen, die im 7. und 8. Jahrhundert von den Muslimen erobert wurden (z.B. Syrien, Mesopotamien oder Iran).
Ich nehme im Folgenden an, dass es um Europa geht:
Zu allererst sollte man die Begriffe "Europa", "Abendland" und "Christentum" auseinanderhalten. Sicher waren Nordafrika, Ägypten und der Nahe Osten in der Spätantike Zentren christlicher Kultur (so Maglor in Beitrag #5). Was aber hat das mit Europa zu tun? Das Christentum ist nicht Europa oder etwas europäisches. Gerade im 7. Jahrhundert gab es starke christliche Gemeinden in Mesopotamien und im Iran (mit Ausläufern bis nach China). Insofern ist die gedankliche Verbindung von Europa und Christentum irreführend. Nur wenn man diese unangemessene Gleichsetzung voraussetzt, kann man behaupten, "dem Christentum" seien nach Ausbreitung des Islam lediglich "ein paar slawische und germanische Kuhbauern" verblieben, "vielleicht noch ein verkümmertes Italien." Das (eben noch genannte) christliche Ostrom wird dabei ebenso ausgeblendet wie es die Christen unter nicht-christlicher Herrschaft (teilweise auch unter christlicher Herrschaft, siehe Äthiopien) werden, obwohl diese ihre "Glaubensgenossen" im "christlichen Abenland" zahlenmäßig sicher noch lange in den Schatten gestellt haben. Die Auswirkung der islamischen Expansion auf das Christentum zu untersuchen wäre ein ganz anderes Thema als deren Auswirkung auf Europa.
Die prosperierende und zivilisatorisch hochstehende römisch-griechische Zivilisation der Levante, Nordafrikas und Kleinasiens wurde schwer in Mitleidenschaft gezogen.
Erstens: Ebensowenig wie man "Christentum" und "Europa" in Gedanken assoziieren oder verschmelzen sollte, sollte man "römisch-griechische Zivilisation" und "Europa" miteinander identifizieren. Insofern gilt obige Kritik auch hier. (Natürlich nur unter der Voraussetzung, dass sich die Ausgangsthese des Thread auf Europa bzw. "das Abendland" bezieht und nicht etwa auf eine mutmaßliche Negativwirkung der islamischen Expansion auf alle unterworfenen Kulturen im allgemeinen.)
Zweitens: Die Annahme, die Hochkultur des (östlichen) Mittelmeerraumes sei von der islamischen Eroberung zivilisatorisch schwer in Mitleidenschaft gezogen worden, ist ziemlich fragwürdig. Sicher hatten Kriegsgebiete unter Kampfhandlungen zu leiden, aber von einem Kulturbruch in der gesamten Region kann schwerlich die Rede sein. Das Bild vom Umbruch beruht nicht zuletzt auf dem Umstand, dass sich die Forschung schwer getan hat (und noch tut), ein adäquates Bild von der Übergangszeit zwischen spätantiker und frühislamischer Zeit zu zeichnen. Warum? Weil dazu eine enge Zusammenarbeit von Arabisten und Islamforschern auf der einen Seite und von Gräzisten und Altertumsforschern auf der anderen Seite nötig ist. In der neueren Forschung gibt es Bestrebungen, diese Überwindung der (hier einengenden) Fachgrenzen verstärkt zu betreiben, und da zeigt sich vielerorts eine starke kulturelle Kontinuität.
Um endlich auf die Ausgangsfrage zu sprechen zu kommen:
Eine sinnvolle Herangehensweise wäre es vielleicht, den kulturellen Stand der europäischen Länder vor der islamischen Expansion (also ca. 600 oder 650 n.Chr.) mit jenem der folgenden Jahrhunderte zu vergleichen. Kann man da überhaupt Rückschritte feststellen? Wenn nicht, ist die These bereits ad absurdum geführt. Lassen sich dagegen in bestimmten kulturell-zivilisatorischen Bereichen Rückschritte oder Krisen feststellen lassen, dann muss man sich ansehen, was die Gründe für diese Probleme gewesen sein können und ob damit möglicherweise die islamische Expansion in Verbindung zu bringen ist. (Lassen sich übrigens Fortschritte feststellen, so wäre ebenso zu prüfen, ob diese mit Auswirkungen der islamischen Expansion zu tun haben könnten.)