Luther hat natürlich nicht voraussehen können, dass man ihn Hunderte von Jahren nach seinem Tod mal beim Wort nehmen und seine verbalen Vernichtungsphantasien in die Tat umsetzen würde. Seine Äußerungen zum Judentum sind teilweise widersprüchlich.
Einerseits hat er betont, dass Jesus, die heilige Familie und alle Apostel Juden waren und Juden den gleichen Gott verehren wie die Christen und Judentum und Christentum heilige Schriften teilten.
Er hat sich wohl als Idealfall vorgestellt, dass die Juden seine Lehre annehmen und zum Christentum konvertieren sollten. Dass sie es nicht taten und die Zahl der jüdischen Konvertiten verschwindend gering war und blieb, hat er den Juden sehr übel genommen, und seine Äußerungen in seinen Tischgesprächen und dem Pamphlet "Von den Juden und ihren Lügen" waren von äußerster Radikalität und durchdrungen von kaum verhüllten Vernichtungsphantasien.
Was den traditionellen Antijudaismus den viele Vertreter der Kirchen vom Antisemitismus wie er im 19. Jahrhundert Konturen annahm, war dass er nicht biologistisch argumentierte. Nach christlicher Lehre kann sich ein Mensch ändern, und wenn ein Jude zum Christentum konvertierte, war im Grunde alles gut, auch wenn immer wieder von Geistlichen und Laien die Ernsthaftigkeit einer Konversion angezweifelt und jüdischen Konvertiten unterstellt wurde dass sie nur aus Opportunismus konvertierten und im Grunde Juden blieben.
Darin unterschied sich der Antisemitismus vom Antijudaismus des Mittelalters und der Neuzeit. Er argumentierte biologistisch, sah im Judentum keine Religionsgemeinschaft, sondern eine "Rasse". Konversion nützte den Juden nichts mehr, sie gehörten angeblich einer "Rasse" mit festgelegten Eigenschaften an. Es wurde ihnen nicht oder zumindest nicht vordergründig vorgehalten, dass sie Christus ans Kreuz gebracht und die christliche Lehre abgewiesen hätten, sondern dass sie eine parasitäre Rasse seien, die das "Wirtsvolk" aussaugten, dass sie den Kapitalismus, den Sozialismus und die Psychoanalyse erfunden hatten und eine Verschwörung anzettelten, die ihnen die besten Positionen im Kulturbereich, in Medizin und Jurisprudenz sicherten. gesellschaftliche Assimilation, Patriotismus und Integration nützten ihnen nichts mehr, sie waren eine fremde Rasse mit feststehenden Eigenschaften, der Paroli geboten werden musste. Der Historiker Heinrich von Treitschke formulierte Ende des 19. Jahrhunderts den Satz "Die Juden sind unser Unglück", den später Julius Streichers Hetzblatt "Der Stürmer" übernahm.
Wie Luther darauf reagiert hätte ist schwer abzuschätzen, als seine Forderungen in die Tat umgesetzt wurden, als tatsächlich Synagogen niedergebrannt, Thorarollen vernichtet und Juden erst immer mehr entrechtet und enteignet und ausgeplündert, dann durch Zwangsarbeit drangsaliert und schließlich ermordet wurden.
Wie die protestantischen Kirchen, die sich auf Luther beriefen reagierten, ist dagegen bekannt. Einzelne Pastoren und Kirchenmitglieder haben Juden Zuflucht gewährt, haben protestiert, sich versucht, der Gleichschaltung zu entziehen und sind manchmal große persönliche Risiken eingegangen.
Das lässt sich aber leider von den Institutionen nicht sagen. Wenn sich die protestantischen Amtskirchen mal geäußert haben, taten sie das, wie Karl Barth, Mitglied und Kritiker der bekennenden Kirche einmal sagte fast ausschließlich in eigener Sache. wenn sie sich zugunsten von Juden einmal äußerten, sprachen sie fast nur von den konvertierten Judenchristen. Auch in den Reihen der bekennenden Kirche war Antisemitismus weit verbreitet. Gegen die Aktion T4, die Ermordung von behinderten erhoben Kirchenobere ihre Stimme, gegen den Rasse- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion war kein kritisches Wort zu hören-im Gegenteil! Der schmutzige Krieg gegen die "gottlosen Bolschewisten" wurde bejaht, es wurden Glocken geläutet und dem Führer gedankt. Der NS wurde von vielen, allzu vielen protestantischen
Pastoren und Laien wohlwollend aufgenommen. Nie haben höhere Geistliche vor Antisemitismus gewarnt, kein kritisches Wort, keine Warnung war zu hören, als die Nürnberger Gesetze verkündet wurden, als Synagogen, Gotteshäuser, brannten. Die Errungenschaften der Französischen Revolution und der Aufklärung wie Juden- und Frauenemanzipation wurden mit Skepsis, vielfach mit Ablehnung betrachtet. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Presse-, Gedanken- und Meinungsfreiheit wurden nirgendwo dank den Kirchen, sondern gegen sie durchgesetzt. Viel zu lange und viel zu intensiv waren die protestantischen Kirchen mit der politischen Macht verbandelt, die Landesfürsten waren in der Regel auch Oberhaupt der Kirchen, als diese unheilige Allianz von Thron und Altar von der Novemberrevolution beendet wurde, trauerte man dieser zeit nach, sehnte sich nach einem starken Führer. In der Sozialdemokratie, in der Juden- und Frauenemanzipation sahen viel zu viele Träger der Amtskirchen eine Bedrohung und Gefahr, und das machte gerade ländliche protestantische Milieus sehr empfänglich für autoritäre faschistoide Systeme. Als die Weitsichtigeren erkannten, wohin die Reise geht, war es bereits zu spät. Antisemiten wie der Hofprediger Stoecker wie Heinrich von Treitschke beriefen sich auch und vor allem auf Luther. Eine wirklich kritische Auseinandersetzung mit der Rolle von Antisemitismus/Antijudaismus im Weltbild von Martin Luther und welche Folgen dieses Gedankengut in der Geschichte des Protestantismus spielte, erfolgte erst nach dem 2. Weltkrieg, und vielfach waren Kirchenobere auch dann noch nicht für eine kritische Aufarbeitung bereit. Gerne stellte man sich selbst Persilscheine aus, behauptete eine prinzipielle Gegnerschaft des Protestantismus zum NS und verwies auf Persönlichkeiten wie Martin Niemöller, Dietrich Bonhoeffer oder Carl Barth. Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Martin Luther sind einige selbst heute nicht bereit, Luther wurde vielerorts zu einer überlebensgroßen Persönlichkeit gemacht, an der Kritik zu üben schon fast einer Majestätsbeleidigung gleichkommt. Eine Kontinuität zwischen Protestantismus und Nationalsozialismus gab es nicht, jedenfalls nicht in dem Sinne, dass die Geschichte des Protestantismus zwingend wie ein Katarakt auf den NS zugeströmt wäre, so als ob die Geschichte des deutschen Protestantismus eine Vorgeschichte des NS gewesen und Luther ein Bruder im Geiste war, wie es die Nazis so gerne behaupteten. Sie hätten aber kaum solche Kontinuitäten einigermaßen plausibel konstruieren können, sich nicht auf Luther als Legitimation berufen können, wenn nicht antisemitische/antijudaistische Vorstellungen im Gedankengut des Reformators vorhanden gewesen wären. Die Nazis waren keine Marsmenschen, die über Nacht Deutschland besetzten. Ohne diese antisemitischen Traditionen wären nicht vor allem ländliche protestantische Milieus so empfänglich für den NS gewesen, und ohne die Koloboration der protestantischen Kirchen, die ganz ohne Not, oft in vorauseilendem Gehorsam Kirchenbücher und Dokumente herausgaben, hätte man in vielen Fällen gar nicht herausfinden können, wer alles Halb- oder Dreivierteljude war.