Ich habe mich mit der Markion-Thematik nie befasst, lese aber in dem angegebenen Wikipedia-Artikel, dass verschiedene Historiker bzw. Theologen das Markion-Evangelium rekonstruiert haben. Wie sie das gemacht haben, finde ich nur bei der genannten Judith Lieu und Dieter T. Roth*:
"für sie [Lieu] ist Marcion und dessen Werk nur durch seine Kontrahenten erkennbar, so das dementsprechend jeder seiner Widersacher aus der jeweils unterschiedlichen Perspektive eine etwas andere Darstellung seiner Theologie darbietet. [...]
Roth publizierte 2015 eine Rekonstruktion des ‚Marcion-Evangeliums‘.
[86] Um den Text mit möglichst hoher Wahrscheinlichkeit genau wiederzugeben und zu rekonstruieren, wurden die Textstellen dreier Hauptquellen untersucht: den
Adversus Marcionem von
Tertullian, das
Panarion (oder
Adversus haereses) von
Epiphanios von Salamis sowie den
Adamantius-Dialog (Περὶ τῆς εἰς θεὸν ὀρθῆς πίστεως Peri tēs eis theon orthēs pisteos), um Textstellen miteinander abzugleichen, die das marcionitische Evangelium wiedergeben
können. Diese drei Quellen weisen Zitate aus dem ‚marcionitischen Evangelium‘ auf.
Wichtig finde ich aber das Argument, was Eduard Lohse 2011 vorgebracht hat und das sich mit Ulrich Schmids Auffassung gut in Einklang bringen lässt. Schmid sah ja eher Markion als abhängig von einem bereits etablierten Vier-Evangelien-Kodx an (so jedenfalls der Wikipedia-Artikel):
...mit dem Vier-Evangelien-Codex
[...]
Ulrich Schmid stellte die These auf, dass Marcion diese Papyri kannte und aus diesen Texten das Evangelium nach Lukas deswegen für sein Kompilat nutzte, weil u. a. dessen
Abendsmahlparadosis (von
altgriechisch παράδοσης paradosis „Überlieferung“) an Paulus anknüpfte. Ferner habe er in Lukas auch Anklänge an die paulinische Rechtfertigungslehre gefunden (
Lk 16,15
EU,
Lk 18,9.14
EU,
Lk 16,15
EU,
Lk 18,14
EU).
Eduard Lohse widersprach im Jahr 2011
[79] Einschätzungen, die Marcion gewissermaßen als den Schöpfer eines ersten Entwurfs für ein Neues Testament ansähen. Für Lohse war es wahrscheinlicher, dass die Ansätze zu einer Kanonbildung schon in die Zeit vor Marcion zurückreichten.
So habe der Märtyrer Justin, ein Zeitgenosse Marcions, der sich auch kritisch mit der Lehre Marcions auseinandersetzte, bereits die Vierzahl von Evangelien gekannt.
Gerade der letzte Satz scheint mir ein gewichtiges Argument gegen Klingbeil zu sein, der im Prinzip nicht nur Lukas, sondern
alle Synoptiker, wenn auch in geringerem Maße, in Abhängigkeit von Markion sieht. Natürlich könnte es theoretisch auf eine etwaige Gleichzeitigkeit der Auseinandersetzung Justins mit Markion und der Fixierung der Vierzahl der Evangelien hinauslaufen, das Justin-Argument hat also am Ende nur begrenzte Aussagekraft. Wenn man aber die synoptischen Evangelien in die Zeit unmittelbar nach der Zerstörung Jerusalems datiert, dann stammen sie aus der flavischen Zeit, ca. 40 - 60 Jahre nach den beschriebenen Ereignissen. Und das ist m.W. auch die
opinio communis.
*Das besagt natürlich nichts über die Vorgehensweise der andere Rekonstrukteure (wäre auch mal interessant zu untersuchen, wie nah die vier oder fünf Konstruktionen beieiander liegen). BeDuhn hat, wenn ich das richtig verstanden habe, nur eine englische ÜS des Markion-Evangeliums vorgelegt, was mich besonders skeptisch macht, wobei man BeDuhn zugute halten muss, dass er eigentlich sehr kritisch mit den englischsprachigen ÜSÜS der Evangelien ist, die aus dem jeweiligen Zeitgeist der übersetzenden christlichen Strömung gespeist seien und daher in Teilen unzuverlässig.