Die Herrscher lebten dann also in irgendwelchen Strohhütten, von denen nichts erhalten ist, und ließen die teuren Paläste nur für die Verstorbenen und Feiern errichten?
Ich könnte mir vorstellen, dass die hauptsächliche Bebauung Kretas aus (nicht zwangsläufig ärmlichen) Holzgebäuden bestand und der Stein zur Errichtung der nach der Meinung der Minoer wichtigsten Bauten verwandt wurde. So eine Theorie ließe sich natürlich nur halten, wenn bei den Bewohnern der Insel Stein teurer als Holz und Mangelware gewesen wäre. Wovon ich keine Ahnung habe.
Ansonsten - warum sollten die Minoer ihre Ressourcen nicht in Sakral- und Ritualbauten gesteckt haben? Etwa zur selben Zeit errichteten die Ägypter Pyramiden, die sämtliche andere architektonischen Leistungen des Volks deutlich übertrafen. Auch von den alten Ägyptern sind heute sonst nicht mehr allzu viele andere Bauwerke erhalten, und es gäbe noch viele andere Beispiele für Kulturen, die ihr ganzes Können in ein religiöses Unterfangen einsetzten. Bauvorhaben, die keinem höheren Zweck dienten, setzten nun einmal nicht die selben Motivationen frei.
Genauso gut könnte man argumentieren, dass die Minoer die Paläste als Verwaltungszentren oder als öffentliche Vergnügungseinrichtungen nutzten. Auch hier gilt: Der Anreiz bringt die Menschen dazu, solche Wunder zu bauen.
Diese Überlegungen fußen freilich nur auf zwei Grundannahmen:
1. Auf Kreta sind Holz und Lehm deutlich verfügbarer als Steine.
2. Die kretische Politik beruht auf "Gemeinsinn".
Die erste Hypothese lässt sich leicht prüfen, und wenn sie nicht stimmt, dann sind die vorherigen Theorien sinnlos, denn in diesem Fall hätten die Minoer ihre Paläste aus Holz gebaut und ihre Wohnungen aus Stein. Es würde sich aber die Frage stellen, warum nur so wenige steinerne Häuser erhalten sind. Die einzig möglichen Antworten sind, dass Kreta entweder sehr dünn besiedelt gewesen wäre (was aber allen Forschungen widerspricht), oder dass irgendeine schreckliche Katastrophe die steinernen Städte vernichtet hat. Wobei man auch davon noch nie etwas gehört hat, sodass man, um den aktuellen Stand der Wissenschaft zu rechtfertigen, davon ausgehen muss, dass auf Kreta Holz und Lehm einfach zu haben und Stein es nicht ist.
Über die zweite Hypothese kann man streiten. "Gemeinsinn" muss nicht unbedingt heißen, dass die Staatsform demokratisch ist. Es kann sich auch um eine Monarchie oder Aristokratie handeln (wie es im Fall der minoischen Kultur wohl ist). Entscheidend ist, ob die Zufriedenheit des Herrschers von der des Volkes abhängt. Und hier können wir differenzieren:
Entweder die Minoer wurden von einer am "Gemeinsinn" orientierten Administration geführt. Dann ist eine Verwendung der Paläste als sakrale bzw. rituelle Orte durchaus möglich.
Oder die Minoer wurden autokratisch regiert. Dann könnte man es sich vorstellen, dass der Herrscher seine Untertanen zum Bau von ausladenden Wohnsitzen gezwungen hat.
Also hängt der wahrscheinlichste Verwendungszweck dieser mysteriösen "Paläste" von den Umständen der minoischen Kultur ab.
Soweit meine Gedanken zur minoischen Kultur.