Soweit meine ich die Theorie verstanden zu haben, sie gilt doch für schriftlich fixiertes Wissen = Bücher genauso wie für nur mündlich weitergegebenes Wissen.
Ja und sowohl für Individuen als auch für Gruppen. Das ist quasi die Eier legende Woll-Milch-Sau unter den soziologisch-psychologischen Schemata
Ob es an den alten Büchern liegt, dass diverse Vorstellungen über "Rasse" noch in vielen Köpfen spuken, weiß ich nicht, vielleicht wurden Klischees auch mündlich weitergegeben.
Ok, jetzt verstehe ich, worauf du hinaus wolltest. Ich hatte deine Frage globaler verstanden und weniger darauf bezogen, wie lange es dauert bis Wissen in allen Köpfen angekommen ist.
Den Zugang zur Weitergabe der Rassentheorie findet man mE weniger bei alten Büchern, damit würdest du ja voraussetzen, dass jeder der der Rassentheorie nach wie vor anhängt, ein einschlägiges Buch gelesen hätte. Ich würde den Zugang hier anders suchen.
Muß man erst unbewußt verinnerlichtes (implizites?) veraltetes Wissen an die Oberfläche holen, es bewußt bearbeiten oder ist es für das Gruppenwissen der nächsten Generation besser, es zu vergessen und auf ein natürliches Aussterben zu setzen.
Ersteres, aber ich bleibe mal direkt bei der Rassentheorie und hole ganz weit aus (ich hoffe mal, ich mache jetzt nicht noch mehr Knoten in dein Kneuel):
Die Rassentheorie war direkt mit ihrer Entwicklung mit einer Rangordnung (eine sog. scala naturae) der nach subjektiven Äußerlichkeiten festgelegten Menschenrassen verbunden, bei der der Schwarze die unterste Stufe darstellte und damit dem Tier am nächsten war (vor der Aufklärung unterteilte man eher nach Religion oder Stand, die Ureinwohner der in der Frühen Neuzeit entdeckten Länder wurden oft als "edle Wilde" dargestellt und weniger als viehische und minderwertige Kreaturen wie mit der Rassentheorie der Aufklärung). Je nach Zeitgeist und Land verändert sich die Einteilung der Rassen, eines bleibt aber: die Rangordnung, wobei die eigene "Rasse" immer oben steht. Soweit mal zur grundsätzlichen Kernaussage.
Was spricht denn diese Kernaussage an, bzw. was löst sie aus? Zum einen doch Gruppenzugehörigkeit in Verbindung mit gleichzeitiger Ausgrenzung anderer und dann natürlich ein "besser als"-denken. Hier ist dieses "besser als"-denken im sozialpsychologischen Sinne aber nichts anderes als der positivistische Ausdruck einer Urangst, nämlich der Existenzangst. Wenn sich jemand in einem solchen Zusammenhang als "besser als" betrachtet, dann weil er eine Bedrohung wahrnimmt. Schaut man sich nun die unterschiedlichen Ausprägungen der Rassentheorie an, dann stellt man fest, dass die Bedrohung immer direkt mitgeliefert wird. Sei es die "jüdische Weltverschwörung", sei es der kostbare Lebensraum, der durch "die minderwertige slawische Rasse" besiedelt wird und den "man" so dringend braucht. Durch die Gemeisame Vermittlung des Überlegenheitsanspruchs und der existenziellen Bedrohung und die damit ausgelöste Urangst sitzt das erstmal tief im Bewusstsein. Das Wissen ist durch diese Verknüpfung implizit sozialisiert. Man weiß es eben, dass die Juden böse und die Slawen minderwertig sind. Auch wenn man es nicht im wissenschaftlichen Sinne erklären kann. die Vermittlung dieses Wissens ist noch nicht so lang her. Meinen Großeltern wurde genau das noch eingeimpft.
Im Zusammenhang mit der Weitergabe dieses Wissens gibt es nun mehrere verschiedene Wege.
Möglichkeit 1: die Großelterngeneration hält die Rassentheorie weiter für richtig. Damit gibt diese Generation die erlernte Urangst aus Überzeugung an die Elterngeneration weiter.
Möglichkeit 2: die Großelterngeneration reflektiert entsprechend und lernt, dass die Rassentheorie falsch ist. Bewusst gibt die Großelterngeneration die Rassentheorie nicht mehr weiter, gibt aber mit großer Wahrscheinlichkeit unbewusst oder unterschwellig Teile der Rassentheorie weiter. Nur mal ein paar in den Raum geworfene Beispiele: Kinderspiele ("Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?"), Kinderlieder ("Zehn kleine Negerlein"), Vorleben der gelernten Angst (das ist nichts das man aus Vernunftgründen einfach so ablegen kann und gerade Knder nehmen Angsterscheinungen bei Eltern sehr genau wahr). Die Elterngeneration übernimmt hier also implizites Wissen der Großelterngeneration, dass bei ihnen selbst nie explizit war und auch bei ihren Kindern als implizites Wissen durch Sozialisation aufgenommen wird.
Wir haben in der Großelterngeneration zwei grundsätzliche Ausprägungsformen zur Rassentheorie. Salopp gesagt "ja, war ein Schmarrn die Nummer, brauchen wir nicht" und "nein, ist ne gute Sache".
Dann lassen wir mal die Elterngeneration erwachsen werden. Als Voraussetzung muss hier wieder eine Auseinandersetzung mit der Rassentheorie erfolgen, sonst ist das einzige, das passiert, ein erneutes Aufleben der Rassentheorie unter geänderten Voraussetzungen, weil das Wissen an der Stelle noch in allen Köpfen implizit oder gar explizit vorhanden ist und nicht durch entsprechende Reflexion bearbeitet wird. Genau das ist auch der Grund, warum es so absolut wichtig ist, eine aktive Erinnerungspolitik im Zusammenhang mit der NS-Zeit zu betreiben, weil es noch ein ordentlich langer Weg ist, bis der ganze Unfug, der damals in die Köpfe gepflanzt wurde aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden ist. Aber ich schweife gerade ab... Auch bei der Elterngeneration gibt es wieder mehrere Möglichkeiten:
Möglichkeit 1a): die Elterngeneration hält die Rassentheorie weiter für richtig. Damit gibt diese Generation die erlernte Urangst aus Überzeugung an die Kindergeneration weiter.
Möglichkeit 1b): die Elterngeneration reflektiert entsprechend und lernt dass die Rassentheorie falsch ist. Eine bewusste Weitergabe erfolgt hier nicht mehr, eine unbewusste, unterschwellige aber vergleichbar wie unter Möglichkeit 2 der Großelterngeneration.
Möglichkeit 2a): die Elterngeneration reflektiert das implizit erworbene Wissen während der Kindheit anhand des neu gelernten und kommt zu dem Schluss, dass die Rassentheorie in der herkömmlichen, üblicherweise aber in einer auf den Zeitgeist modifizierten Form richtig ist und genau das wird an die Kinder weitergegeben.
Möglichkeit 2b): die Elterngeneration reflektiert das implizit erworbene Wissen während der Kindheit anhand des neu gelernten und findet es genau richtig, so wie es die Großelterngeneration gemacht hat (das ist die Sorte, die sich gerne echauffiert, was denn so schlimm am Begriff "Neger" sein soll und Kinderspiele wie "Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann?" als harmlos bezeichnet
) und werden es genauso machen wie ihre Eltern.
Möglichkeit 2c): die Elterngeneration reflektiert das implizit erworbene Wissen während der Kindheit anhand des neu gelernten und entdeckt zusätzlich noch versteckten, also bisher impliziten Rassismus und reflektiert dieses Wissen entsprechend und wird diese Reflexionsergebnis nicht mehr an die Kindergeneration weitergeben.
In der Elterngeneration haben wir jetzt schon fünf Ausprägungsformen: "Nein, war kein Schmarrn die Nummer, brauchen wir sehr wohl, allerdings anders als bisher", "Ja war ein Schmarrn die Nummer, Mama und Papa haben wie immer recht", "Ja, war ein Schmarrn die Nummer und zusätzlich gibts noch a bisserl mehr, was wir auch nicht mehr brauchen" sowie "Nein, ist ne gute Sache" und "Nein, ist keine gute Sache, brauchen wir nicht mehr".
Ich erspare es uns mal auch nich die Kindergeneration erwachsen werden zu lassen, ich denke, jetzt dürfte klar sein, wie die Weitergabe von entsprechendem impliziten Wissen läuft und wie lange es wohl dauern wird, bis derartige Theorien, die an entsprechende Urängste appellieren, wirklich aus den Köpfen verschwunden sind. Einen entsprechenden Umwelteinfluss habe ich aus Vereinfachungsgründen mal ausgeblendet, insbesondere weil der Haupteinfluss auf die kindliche Entwicklung üblicherweise durch die Eltern erfolgt. Die (gesellschaftliche) Kunst ist es nun, die Gruppe der ewig Gestrigen (1a) und die Gruppe der Neo-Gestrigen (2a) möglichst klein zu halten und die reflektierten Gruppen entsprechend zu stärken, wobei die Passt-schon-Gruppe (2b) auch nicht unbedingt zu unterfüttern ist. Das funktioniert am besten durch die gezielte Auseinandersetzung mit dem Thema und einer Reflexion unter Anleitung und das passiert üblicherweise in der Schule. Nachdem Lehrer ebenfalls obigen Schema unterworfen sind, die Großelterngeneration schon lange in Pension ist, und die Elterngeneration in den nächsten Jahren den Sprung machen drüfte, sind mit einer ebenfalls sehr hohen Wahrscheinlichkeit entsprechend reflektierte Lehrkräfte an den Schulen, die auch eine Reflexion bei denen steuern können, wo dies durch das Elternhaus nicht geleistet werden kann. (ich gehe einfach mal davon aus, dass Geschichtslehrer der Kindergeneration 2c sein müssen - alles andere würde an der Stelle schlicht nicht in meine Vorstellungswelt passen)
Und inwieweit sind Bücher als manifestiertes Wissen dabei hinderlich?
Gar nicht, vielmehr sind sie im Reflexionsprozess förderlich. Ein original 30er Jahre Büchlein zur Rassenlehre eignet sich allerdings erst in einem fortgeschrittenen Reflexionsstadium. Entsprechende Quellen mit Hintergrundfakten ergänzt, wie in Geschichtsbüchern oder auch bei der bpb sind auch nutzlich, um den Reflexionsprozess überhaupt erst einzuleiten.