Bis Tschernobyl war aber bei vielen communis opinio, dass deutsche AKWs sicher seien, dass Atomkraft eine saubere und (relativ) sichere Energie ist. Kernkraftgegner wurden gerne als weltfremde Theoretiker hingestellt.
Es gab Stimmen, die darauf hinwiesen, dass Tschernobyl auf dem technischen Stand von Stade oder Biblis waren.
Es wäre in der Tat weltfremd zu behaupten, dass Biblis oder Stade auf dem technischen Stand von Tschernobyl gewesen seien. Abgesehen davon, dass Tschernobyl anders als alle deutschen Kernkraftwerke keine biologische Barriere besaß – keinen Sicherheitsbehälter, keinen Druckbehälter, sondern nur eine Wassersäule und eine Bodenplatte über den Brennstäben –, waren deutsche KKWs inhärent stabil, Tschernobyl nicht. Und das ist keine bloße Meinung, sondern ein physikalischer Fakt.
Deutsche Kernkraftwerke waren so gebaut, dass sie einen negativen Dampfblasenkoeffizient aufwiesen, was vereinfacht bedeutet, dass die thermische Energie im Reaktor abnimmt, wenn das Kühlmittel infolge einer Störung zu verdampfen beginnt. Tschernobyl hatte einen positiven Koeffizienten, die thermische Energie wuchs mit dem Verlust des Kühlmittels – darum letztlich die Explosion.
Wäre Tschernobyl wirklich auf demselben technischen Stand gewesen, wäre es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit niemals zur Katastrophe gekommen, es sei denn, die Reaktorfahrer hätten es absichtlich darauf ankommen lassen. Und selbst dann hätten die biologischen Barrieren zumindest die Radioaktivität zurückgehalten, wie eben in Three Miles Island.
Derartige Missverständnisse ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Anti-Kernkraft-Bewegung. In meinen Augen zeigt die deutsche Angst vor der Kernkraft, die es in dieser Intensität eigentlich auch nur im deutschen Sprachraum gibt, denselben wissenschaftsskeptischen Hang der Deutschen zur Esoterik an, den ich auch bei Impfgegnern und Homöopathie-Befürwortern verorte.
Tschernobyl war nicht das unvermeidliche Ergebnis der zivilen Nutzung der Kernenergie, sondern das Werk eines pathologischen totalitären Systems, das sich über sämtliche Erkenntnisse der Wissenschaft hinweggesetzt hatte. Gorbatschow nannte es später in seinen Memoiren die "wahrscheinlich wahre Ursache" für den Zusammenbruch der Sowjetunion; aber dabei schien er nur an die finanziellen Kosten und die erschütterte Überzeugung an die Überlegenheit und Unfehlbarkeit des Systems zu denken.
Dabei zeigte die Katastrophe vor allem eines: Die Sowjetunion war moralisch bankrott. Sie hatte den ohnehin starken russischen Kollektivismus bis ins Pathologische erhöht und das Individuum den Bedürfnissen des Staates geopfert. Tschernobyl ist auch nur ein Beispiel für diesen bis heute in Russland fortdauernden Effekt, der sich alljährlich an opferreichen Unfällen und schweren Umweltschäden zeigt, Folge von Verstößen gegen einfachste Grundsätze der Arbeits- und Verkehrssicherheit.
In dieser Hinsicht bezeichnend ist, dass nur der Kraftwerksdirektor, der Chefingenieur und sein den verhängnisvollen Test durchführender Vize strafrechtlich belangt wurden – obwohl allein das Versagen der Aufsichtsbehörden Anlass für dutzende Verfahren geboten hätte, von den nötigen Konsequenzen in der Regierung der UkrSSR und dem Atomenergieministerium gar nicht zu reden. Auch Gorbatschow selbst hätte in einer Demokratie die politische Verantwortung übernehmen und zurücktreten müssen.
Jedenfalls, man muss froh sein, dass sich die Vorhersagen über das Schicksal der Liquidatoren nicht erfüllt haben, denn das tatsächlich von ihnen erlittene Leid, die für dieses Staatsversagen den Kopf hinhalten mussten, ist groß genug. Wurde ihre Leistung ausreichend gewürdigt? Geht es um die ideelle Würdigung, würde ich sagen: ja. In der Ukraine und international gelten sie als Helden.
Die materielle Würdigung freilich war lange ungenügend. Viele Liquidatoren lebten in den 1990ern in bitterer Armut. Und heute sind Depressionen bei ihnen wohl ein weit größeres Problem als Langzeitfolgen der radioaktiven Strahlung. Hilfsangebote scheinen nur schleppend angelaufen zu sein.
Jetzt, mit dem Krieg, hat die Ukraine natürlich andere Sorgen.