Viele Bücher, die heute als klassische Jugendbücher gelten, waren, als sie erschienen keineswegs für Kinder oder Jugendliche als Adressaten gedacht. Gullivers Reisen von Jonathan Swift, das viele nur als Kinderbuch kennen, war eine knallharte Sozialutopie, die ihrem Verfasser den Vorwurf der Menschenfeindlichkeit einbrachte. Nach Irrfahrten ins Land der Riesen (Brobdignag) und Zwerge (Lilliput) besucht Swifts Antiheld der ehemalige Wundarzt Lemuel Gulliver die schwebende Insel Laputa, wo sich verschrobene Wissenschaftler u. a. mit einem Projekt beschäftigen, aus Exkrementen Lebensmittel herzustellen (offensichtlich eine Parodie der Royal Academy) und schließlich Houhym Island, eine Republik wo vernunftbegabte Pferde über das Zerrbild des Menschen herrschen. Gulliver wird schließlich von dort vertrieben, weil die Pferde ihn, weil er vernunftbegabt ist für noch gefährlicher, als die Yahoos halten. Gulliver endet schließlich als Exzentriker und Misanthrop, der seine eigene Familie verstößt und sich nur in der Gegenwart von Pferden wohlfühlt.
Swifts Reiseroman enthält zahlreiche Anspielungen auf Zeitereignisse und Persönlichkeiten aus Politik und Literatur. Obwohl reizvoll zu lesen, setzt das Verständnis von Swifts Roman eine gute Kenntnis der Geschichte, Politik und Literatur der britischen Inseln voraus. Ohne Erläuterungen und Kommentare ist das Buch selbst für Erwachsene schwer verständlich. Ähnlich ist es mit Herman Melvilles "Moby Dick", von dem auf dem Büchermarkt und in den meisten Bibliotheken gekürzte Varianten kursieren. Die eigentliche Handlung, die geradezu manische Jagd von Kapitän Ahab auf den weißen Wal, macht vielleicht gerade mal ein Drittel des Inhalts aus. Immer wieder fügt der Ich-Erzähler traktatähnliche Überlegungen, buchstäblich über Gott und die Welt ein. Zu Melvilles Lebzeiten galt der Roman geradezu als unverkaufbare Antil-Literatur, auch wenn die Rezensionen in der britischen Literaturszene wohlwollender waren, als in den USA, wo vielen Rezensenten Melvilles Lebensauffassung als zu antireligiös galt. Viele Passagen von Melvilles Roman beschäftigen sich mit zoologischen Details oder sind im Soziolekt der Seeleute geschrieben, die für Menschen, die nicht mehr mit Segelschiffen und den technischen Voraussetzungen vertraut sind, wie sie funktionieren oft ausgesprochen schwer verständlich sind. "Moby Dick" dessen Inhalt vielen Menschen zumindest was die eigentliche Handlung betrifft heute bekannt ist, war ein totaler Ladenhüter. Eine Bibliothek kaufte zwei Ausgaben an und sortierte sie als Kuriosum unter zoologische Literatur ein. Ähnlich ist es mit Büchern wie Dickens "Oliver Twist" und "David Copperfield", deren volles Verständnis gute Kenntnisse der Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts voraussetzt.
Irgendwie finde ich ja die Achtung vor Klassikern der Weltliteratur höchst ehrenwert, und ich habe ungekürzte Ausgaben vieler Bücher, die ich als Junge gerne gelesen habe, erst als erwachsener Mensch kennengelernt, bei vielen war mir gar nicht bekannt, dass ich bis dahin nur gekürzte Varianten gelesen habe. Die Neugier aber auf Literatur, der Wunsch zu lesen, der wurde in meiner Jugend gelegt, wir hatten immer viele Bücher, darunter- ich muss es gestehen auch viel trivialer Quark- aber die Lust zu lesen, habe ich mir bewahrt. Irgendwann hat es mir nicht mehr gereicht, Übersetzungen zu lesen oder mir meist sehr frei bearbeitete Literaturverfilmungen anzusehen. Viele gekürzte Jugendausgaben hatten Schwächen, hatten fragwürdige Übersetzer, aber eines ist jedenfalls sicher, hätte ich als 8Jähriger oder 10Jähriger nur Originale von Klassikern gehabt, ich hätte sie wohl nie zu Ende gelesen. Obwohl gebildet, wären meine Eltern nicht in der Lage gewesen, mir manches zu erklären, mich für die ungekürzten Klassiker zu begeistern. Ein Reiz, den Literatur bis heute für mich hat, war, dass ich mir das Verständnis selbstständig gesucht und angeeignet habe, auch wenn ich manches erst als Erwachsener ausgegraben habe. Ich hätte unkommentierte, ungekürzte Klassiker nicht verstanden, und die Bücher wären verstaubt, ohne dass ich sie gelesen hätte. Ich wäre bis in meine reiferen Jahre ausschließlich auf Literaturverfilmungen und Sekundärliteratur angewiesen geblieben, um mir einen Zugang zum Schatz der Weltliteratur zu verschaffen. Das wäre doch sehr schade gewesen!
Der Vergleich zwischen mittelalterlichen Urkunden, bei denen es um Besitz- und Rechtsverhältnisse geht, zwischen Dokumenten und Urkunden und Kinder/Jugendliteratur erscheint mir problematisch. Das sind doch ganz verschiedene Genregattungen, und bei allem Respekt vor belletristischen Klassikern, wird man denen wenn man sie zum Fetisch, zu Ikone erhebt , bei denen nur ja nichts gekürzt, bearbeitet und aufbereitet werden darf eben so wenig gerecht, als wenn man sie, in bester Absicht,verhunzt und zu Tode kürzt.
Eine schlechte Übersetzung, eine pädagogisch motivierte gekürzte Fassung, die aber den Zugang zum Original erschließen kann, erscheint mir ehrlich gesagt wertvoller, als ein in Leder gebundenes Original, das aber ungelesen, weil unverstanden nur zur Verzierung in der Glasvitrine steht, aber das ist natürlich meine private Ansicht.