Man könnte aber auch andere Elemente einbeziehen: Das Erbe der autoritären und in Teilen sehr militaristischen Sowjetunion mit ihrem latenten Personenkult, die Erfahrung (bzw. vermutlich besser: das Gefühl) einer nationalen Demütigung und eines politischen Bedeutungsverlustes in den 1990er-Jahren oder die wirtschaftlichen Probleme beim Übergang von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft. All das hat wenig mit dem Christentum zu tun, sondern viel eher mit den gesellschaftlichen und politischen Entwickungen eines unerwarteten Systemwechsels.
Ich denke, man sollte vor allem auch die Geschichte der orthodoxen Kirche in Russland selbst mit reflektieren.
Ein kleiner Exkurs dahingehend:
Die russisch-orthodoxe Kirche und damit verbunden das Amt des Patriarchen, konnten in der frühen Neuzeit nach der endgültigen Trennung von Byzanz zunächst eine relativ starke Rolle innerhalb Russlands spielen, im Besonderen in der sogenannten "Zeit der Wirren", als der Zarenthron mehr oder weniger umkämpft war, nach dem Aussterben der direkten Linie der Rurikiden in Muskowien/Russland am Ende des 16. und unter den ersten Romanow-Herrschern, vor allem unter der Herrschaft des ersten Romanow-Zaren Michail I., dessen Regierungszeit zu beginn de facto eine Doppelherrschaft war, die sich der Zar Michail und der Patriarch "Filaret" (gleichzeitig Michails Vater) mehr oder weniger teilten.
Auch nach dem Tod Zar Fjodor III. 1682 (dieser hatte de facto keine Nachkommen, so dass sein jüngerer Bruder Iwan V. aus der ersten Ehe Alexej Michailowitschs mit Marija Mirsolawskaja und sein jüngerer Halbruder Pjotr (Peter) aus Alexejs zweiter Ehe mit Natalja Kirillowna Naryschkina als Nachfolger in Frage kamen, die allerdings beide zu disem Zeitpunkt nicht selbstständig regierungsfähig waren).
Die Folge war eine andauernde Auseinandersetzung zwischen Sofia Aleksejewna einer älteren Schwester des (wohl körperlich und geistig beeinträchtigten) Iwan V. aus Aleksejs erster Ehe mit Marija Miroslawskaja, die versuchte Iwan als Zaren und sich selbt als de facto Regentin durchzusetzen und Natalja Kirillowna Naryschkina, die versuchte mit Verweis auf die Regierungsunfähigkeit Iwan V. die Ansprüche ihres gesunden, aber minderjährigen Sohns Pjotr (der später "Peter der Große" werden sollte), durchzusetzen.
In diese Auseinandersetzung wurden verschiedene Hofparteien, so wie die orthodoxe Kirche, wie auch die Bevölkerung Moskaus und die Strelizen involviert und sie ging für die Naryschkin-Partei zunächst insofern schlecht aus, dass es Sofia Aleksejewna gestützt auf die revoltierenden Strelizen und Teile des Klerus gelang, ihre eigene Regentschaft für Iwan V. (und Pjotr) durchzusetzen.
Hierbei spielte die orthodoxe Kirche nochmal eine bedeutende Rolle.
Als dann allerdings, 1689 nach dem Sturz der Regentin Sofia und mit der Volljährigkeit und dem Regierungsantritt Peter I. der Wind drehte, ging es mit dem Einfluss der orthodoxen Kirche bergab.
Peter I. war bekanntermaßen ein Modernisierer, der mit dem eher konservativen Patriarchen Adrian I. zunehmend auf Kriegsfuß stand (möglicherweise trug dazu auch die Rolle von Teilen des Klerus während des Machtkampfs seiner Mutter mit Sofia Aleksejewna bei) und als Adrian I. dann 1700 verstab, folgte Peters Angriff auf die Stellung der orthodoxen Kirche.
Es war bis dahin Usus gewesen, dass nach dem Tod des Moskauer Patriarchen der Zar dessen Nachfolger bestätigen musste, damit dieser offiziell in sein Amt eingeführt werden konnte.
Peter weigert sich einfach standhaft das zu tun und irgendwen als neuen Patriarchen zu bestätigen, was zu einem zwanjigjährigen Interim führte, (interrimsmäßig übernahm der Peter und dessen Reformagenda nahestehende Metropolit Stepan Jarowski mit Billigung des Zaren in der Zwischenzeit sozusagen die Geschäftsführung) in dem die russisch-orthodoxe Kirche mehr oder weniger ohne offizielles Oberhaupt darstand.
1721 erklärte Peter I. dann das Patriarchenamt für abgschafft. An stelle dessen wurde eine Intstitution mit der Bezeichnung "Heiligster regierender Synod" erfunden, die de facto eine staatlich kontrollierte Behörde war und in die Rechte der früheren Patriarchen als Chefs der russisch orthodoxen Kirche eingesetzt wurde.
An diesem Zustand, dass de facto eine staatliche Kontrollinstanz der orthodoxen Kirche in Russland vorstand änderte sich bis zu den Revolutionen von 1905 und 1917 (Februar) nichts mehr.
Danach wurden diese Strukturen aufgelöst, weil die Verquickung von Staat und Kirche nicht mehr als zeitgemäß erfunden wurde, nur eben mit der Konsequenz, dass anders als im übrigen Europa nicht geistliche Fürsten abgesetzt und deren Herrschaftsbereich säkularisiert wurde, sondern dass, weil die Verhältnisse in Russland umgekehrt waren, der staatliche Einfluss in den kirchlichen Strukturen beschnitten wurde.
Zwischenzeitlich wurde dann auch das Patriarchenamt wieder hergestellt, allerdings spielte die orthodoxe Kirche als Machtfakktor keine wirkliche Rolle.
Kurz danach kamen dann die Bolschewiki und später die Kommunistische Partei, die die orthodoxe Kirche in Russland wieder massiv einschränkten und in Teilen rigoros bekämpften.
Auch wenn sich in der späteren Sowjetunion der staatliche Griff allmählich lockerte, de facto blieb die orthodoxe Kirche der Staatsmacht unterworfen, bis dann am Ende des kalten Krieges die Sowjetunion unterging und die orthodoxe Kirche wieder einigermaßen ungehindert agieren konnte.
Angesichts dieser Vorgeschichte, dass immer wenn in Russland die staatliche Macht, wenn sie im inneren einigermaßen konzentriet war die orthodoxe Kirche angriff, wenn diese sich unbotmäßig zeigte, gibt es sicherlich noch andere, historische Gründe, warum die orthodoxe Kirche in Russland im Augenblick sehr stark die Linie des Kremls vertritt.
Sicherlich ist das für sie bei der sehr konservativen bis reaktionären Politik Putins einfacher, als bei der gewaltsamen Reformpolitik Peters oder der Bolschewiki.
Allerdings drüfte auch die historische Erfahrung, dass jemand im Kreml auf die Idee kommen könnte, mal wieder einen "heiligen Synod" zu erfinden und die orthodoxe Kirche wieder der staatlichen Fuchhtel zu unterstellen, eine Rolle bei deren Disziplinierung im Sinne Putins spielen.
Wenn man bedenkt, dass in den letzten 300 Jahren die russisch-orthodoxe Kirche ann die 250 Jahre oder etwas mehr unter staatlicher Kontrolle und Repression stand, fällt es sicher nicht schwer, das als Grund mit auf dem Schirm zu haben.
So weit ich das beobachtet habe (ich mag mich hierbei irren), beilt sich die russisch orthodoxe Kirche derzeit immer sehr der politischen Linie Putins zu folgen.
Als Taktgeber dieser Linie ist sie mir bisher weniger aufgefallen und ob sie so agieren würde, wenn Putin nicht alles zuzutrauen wäre und die Geschichte Russlands Angriffe auf die Stellung der Kirche eher nicht kennen würde, dass wage ich zu bezweifeln.
Sie wäre sicherlich auch ohne dem bei Themen wie dem Umgang mit Homosexualität und tradierten Rollenbildern etc. keine liberale und modernisierungsbereite Institution.
Dass sie ohne dem aber einem mehr oder weniger faschistischen Politikstil als Sprachrohr willfährig zu Diensten wäre, wage ich zu bezweifeln.