Die guten Romane tun in der Regel genau das: Wahrscheinliches darstellen (da sind Fantasy und SciFi nicht ausgenommen).
Das sehe ich anders. Wahrscheinlichkeit ist, so mathematisch es klingt, hier im Thread nur ein Homonym, dass eine weitestgehend subjektive Einschätzung meint. Aber auch da gilt: Wenn A zu 70 % Wahrscheinlichkeit passiert, ist B, dass zu 30 % passiert, unwahrscheinlich. Dennoch kommt es vor. Ein Roman, der dass nicht akzeptiert, wäre unrealistisch und damit kein guter Roman.
Das etwas nicht vorkam, heißt nicht, dass es unrealistisch ist. Das ist doch dasselbe wie mit der schwierigeren Lesung. Was uns verkehrt erscheint, kann historisch als gute Idee erschienen sein.
Aber bitte, Beispiele:
Die Art der Flucht Graf Luckners aus der Kriegsgefangenschaft war unwahrscheinlich. Einige Fluchten während des Aufstands des Mahdi auch. Die Napoleons von Elba war extrem unwahrscheinlich und das was dann geschah noch mehr. Wie wahrscheinlich ist es, dass der König von England heimlich durch Österreich schleicht? Wie wahrscheinlich, dass das Ruder der Bismarck getroffen wird? Wie wahrscheinlich ist es, dass ich zweimal in meinem Leben auf ein und demselben Bahnhof fern des Wohnorts einen Aufenthalt habe und in beiden Fällen zufällig ein und denselben Vetter fern seines Wohnorts treffe?
Keine Hochliteratur, aber ein Beispiel: Im Film Master and Commander wird ein Floß, dass die Leuchtsignale des Schiffs simulieren soll, um ein Absetzen vom Feind zu ermöglichen, zu Wasser gelassen. Viele Kritiker bezeichneten das als unglaubwürdig. Doch Thomas Cochrane*, Vorbild für viele fiktive Seehelden, hat es in der Realität erfolgreich getan.
Ein Wallander vergisst schon mal, elementare Fragen zu stellen. Aber gerade das macht ihn realistisch. Und wenn ich mit Grass, Mann und anderen anfange, geht es weiter. Gerade weil es in der Summe unwahrscheinlich ist, aber doch realistisch, das Leben verdichtend ist, wirken die Buddenbrooks. Eine Wachstumsverweigerung hat selten Erfolg.
Es gibt Leute, die nicht glauben, dass auf der Südhalbkugel die Sonne im Norden aufgeht. Sie tut es dennoch. Und häufig können wir etwas genauso schlecht beurteilen. Jeder hat seine blinden Flecken. Und schon das bringt seltsame Handlungen hervor.
Wenn ein Roman das ganze Leben fassen soll, darf es nicht an den unwahrscheinlichen Wendungen fehlen. Realismus und Glaubwürdigkeit hängt nicht von der Wahrscheinlichkeit ab, im Gegenteil. Ich gebe natürlich zu, dass etwas, was unwahrscheinlich ist, auch in den Roman passen muss. Aber wir können eben nicht alles berechnen und nicht alles wissen. Es gibt zudem den Zufall. Das gehört zum Leben und damit in einen guten Roman.
* Da er vielen in Deutschland nicht bekannt ist, zum Link die Frage, wie wahrscheinlich so ein Leben ist:
Thomas Cochrane, 10. Earl of Dundonald – Wikipedia